0 | SW Besprechung [Herbert Marcuse] English version by Holger R. Heine

Zeitschrift für Sozialforschung III/1934
Hrsg. von Max Horkheimer
Librairie Felix Alcan Paris

Besprechungen, S. 266-7:

Conze, Eberhard: Der Satz vom Widerspruch. Zur Theorie des dia-
lektischen Materialismus. Selbstverlag Hamburg 1932-33 (26 Lie-
ferungen; RM 10,-)

Conze macht den Versuch, "die Methode des historischen Materialismus
auszudehnen auf das logische Denken, seine Gesetze und Kategorien". Er
will zeigen, wie "das Sein des Menschen die Grundlage auch seines logischen
Bewußtseins ist und wie die Seinsgrundlagen und Verwirklichungsbedingun-
gen des logischen Denkens im praktischen und gesellschaftlichen Leben des
Menschen liegen". In dieser Absicht werden der Satz vom Widerspruch
und der ihn tragende Satz der Identität, also die klassischen Axiome der
traditionellen Logik, untersucht. Nach einer ausführlichen Interpretation [267]
der verschiedenen Fassungen dieser Axiome soll der "Grund der Geltung"
des Satzes vom Widerspruch aufgewiesen werden. Dieser Aufweis soll
seine logische Verbindlichkeit auf "bestimmte Subjekte und Gegenstandsge-
biete einschränken".

Conze findet, daß die "Evidenz" dieses Axioms schließlich auf eine bestimmte
menschliche Praxis zurückführt: "die den Satz vom Widerspruch tragende
Praxis ist eine Praxis der Arbeit".

Der letzte Paragraph gibt dann die eigentliche "soziologische Deutung"
des SvW, indem er die ihm zugrundeliegende Praxis als "gesellschaftliche
Arbeit des vergesellschafteten Menschen" konkretisiert: es soll gezeigt
werden, daß die "Eigenschaften des logischen Denkens selbst" und die
"psychischen und ethischen Eigentümlichkeiten, die es voraussetzt, nur
in der Gesellschaft und durch die Vergesellschaftung entstehen können".

Conzes Interpretation und Kritk der traditionellen Logik ist im wesentlichen
geleitet durch den marxschen Begriff der Entfremdung. Die traditionelle
Logik steht insofern unter der Herrschaft der Entfremdung, als in ihr die
Gegenstände des Denkens und seine Gesetze "als vorgefunden" erscheinen,
"ohne daß ihre Wechselwirkung mit dem praktisch tätigen und arbeitenden
Menschen" berücksichtigt wird. Diese Logik nimmt die Objekte des
Denkens nicht als "Umweltdinge", d.h. so wie sie in voller Konkretion im
praktisch-alltäglichen Verhalten wirklich sind, sondern als bloße "Gegen-
stände", wie sie die Abstraktion von den Umweltdingen zu Objekten der
reinen Theorie macht. Nur in der Form abstrakter Gegenständlichkeit
erscheinen die Umweltdinge in den Urteilen der traditionellen Logik, und
aus diesem Urteilsdenken sollen die Normen des Denkens überhaupt gewon-
nen werden. Damit ist aber das wahre Verhältnis zwischen Umweltdenken
und Gegenstandsdenken auf den Kopf gestellt, denn "das Umweltverhalten
des Menschen ist nicht auf sein Verhalten zur Gegenstandswelt zurückzufüh-
ren". Conze unterscheidet den "Satz" als Ausdruck konkreten Umweltdenkens
vom "Urteil" des abstrakten Gegenstandsdenkens und sagt: "die tradi-
tonelle Logik verlangt, daß die Aussagesätze als Urteile deutbar seinen.
Umgekehrt sind die Urteile als besondere Formen von Sätzen zu deuten,
ist die Logik des Urteils auf die Logik des Satzes zurückzuführen und die
logische Betätigung des Menschen als Spezialfall seiner sozialen aufzufassen".

Der Versuch einer Anwendung des historischen Materialismus auf die
Logik ist ein großes Wagnis, da Vorarbeiten so gut wie ganz fehlen und es
sich um ein vom gesellschaftlichen "Unterbau" sehr entferntes Gebiet der
Theorie handelt, zu dem ein Zugang nur durch eine ganze Reihe von Ver-
mittlungsstufen gewonnen werden kann. Die Unsicherheit eines ersten
Schrittes in Neuland des Materialismus kommt in Conzes Buch deutlich zum
Ausdruck: nicht immer sind die notwendigen "Vermittlungsstufen" durch-
schritten; die stellenweise allzu "direkte" Interpretation ist in Gefahr, vom
dialektischen in den mechanistischen Materialismus zurückzufallen. Jedoch
schon in der vorliegenden Form zeigt sich die große Fruchtbarkeit des
historischen Materialismus: die erstarrte logische Theorie wird überall
aufgelockert und auf ihre ursprünglichen Antriebe hin destruiert (wir
verweisen besonders auf Conzes Interpretation des Nominalismus und Prag-
matismus).

Herbert Marcuse (Genf)